1000 Kilometer durch die grüne Hölle

08. November 2021

Es war ein packendes Kapitel der deutschen Motorsportgeschichte: 30 Jahre lang gingen Fahrer beim 1000-Kilometer-Rennen vom Nürburgring bis ans Limit. Wer es dort schaffte, konnte es überall schaffen.

Zelte, Lagerfeuer und Bierkisten machen das Spektakel zur Auszeit vom Alltag. Mit Fahrrädern, Autos und Motorrädern fahren die Zuschauer direkt an die naturbelassenen Streckenabschnitte, die fürs Publikum bestimmt sind. Sie bekommen einiges geboten: Schon die freien Trainingsläufe dauern bis zu 16 Stunden und verteilen sich auf drei Tage. Damit werden die Fahrzeuge für das Rennen am Sonntag abgestimmt, den jährlichen Höhepunkt auf dem Nürburgring neben dem Lauf zur Formel-1-Weltmeisterschaft. 

In ihrem Buch „1000-Kilometer-Rennen 1953–1983 – die Sportwagen-WM-Läufe des ADAC auf der Nürburgring-Nordschleife“ (erschienen bei Delius Klasing) huldigen Udo Klinkel und Jan Hettler diesem faszinierenden Kapitel der deutschen Motorsportgeschichte auf rund 750 Seiten. Schon als Jugendliche sammelten die Autoren an der Rennstrecke Eindrücke, die sie nie wieder losließen. „Es war eine Geschichte, die erzählt werden musste“, sagt Jan Hettler, „aber nicht irgendwie, sondern mit einer Tiefe, die der historischen Bedeutung des Rennens gerecht wird.“

Ein Gegengewicht zur Formel 1

Die Geschichte beginnt im Jahr 1953. Damals schreibt der ADAC zum ersten Mal ein Rennen über eine Distanz von 1000 Kilometern aus. Anlass ist die Gründung einer Sportwagenweltmeisterschaft. Die FIA will die bestehende Vielzahl der Sportwagenrennen in einem Wettbewerb bündeln und ein Gegengewicht zur Formel 1 schaffen. Bei Klassikern wie den 24 Stunden von Le Mans, der Mille Miglia oder den 12 Stunden von Sebring treten neben vielen Exoten auch Werksteams von Porsche, Ferrari, Jaguar und anderen Marken gegeneinander an.

Während sich die Formel 1 in den folgenden Jahren von den Werksteams weg entwickelt, finden die Hersteller bei der Sportwagen-WM beste Voraussetzungen, um prestigeträchtige Siege auf prestigeträchtigen Strecken einzufahren. Der Nürburgring ist eine davon.

Schnell etabliert sich das 1000-Kilometer-Rennen als feste Größe im Kalender der Fans. 350.000 zahlende Gäste pilgern über die schmalen Straßen der Eifel zum Rundkurs, um dort ein Wochenende im Freien zu verbringen. Das Spektakel wird zur wohl größten Motorsportveranstaltung der Welt, viele Familien und Fangruppen beanspruchen Stammplätze an der Strecke. „Die Aussicht auf deutsche Erfolge zog die Massen an“, erklärt Hettler. „Das war zu Zeiten der Silberpfeile so, aber eben auch in den 60er-Jahren, als sich Porsche vom Klassensieger zum Gesamtsieger entwickelte.“

DIE HARTEN 24 STUNDEN VON DAYTONA

Erbitterte Gefechte liefern sich nicht nur die etablierten Hersteller in den größeren Kategorien, auch in den kleinen Klassen kämpfen die Helden ihrer Zeit bis zum Limit. Die meisten Piloten sind Söldner, die sich von Rennen zu Rennen und von Einsatz zu Einsatz verpflichten lassen. So geschieht es oft, dass Formel-1-Fahrer an freien Wochenenden Gastspiele in der Formel 2 oder bei der Sportwagen-WM geben. Oder umgekehrt. Auf jeden Fall sind die Felder in Zeiten von Startgeldern immer gut gefüllt.

Ferrari gegen Maserati, Ford gegen Porsche

Die Popularität der Sportwagen erreicht in den 60er-Jahren ihren Höhepunkt. Auf der Jagd nach dem WM-Titel scheuen die Hersteller keine Mühen und keinen Aufwand. Die Zeiten sind vorbei, in denen ein guter Fahrer und hohe Zuverlässigkeit den Sieg bedeuteten. „Die großen Herstellerduelle gehörten zu den Höhepunkten in der Geschichte des Rennens“, sagt Motorsportexperte Hettler. „Ferrari gegen Maserati, Jaguar und Aston Martin in den 50ern, Ford gegen Ferrari und Porsche in den 60ern.“

NACKT WIRD DIE GRÜNE HÖLLE ZUM HIMMEL

Scheibenbremsen, Benzineinspritzung, Spoiler – die Rennställe lassen nichts unversucht, um sich einen technischen Vorsprung zu verschaffen, und werden so zu Innovationsschmieden der Automobilindustrie. Der Nürburgring ist ihre Teststrecke, denn der anspruchsvolle Kurs verlangt Fahrer und Material alles ab. Die Kompression an der Fuchsröhre, die abschüssigen Kurvenpassagen und die Gerade auf der Döttinger Höhe gehören zu den Herausforderungen der 20 Kilometer langen Strecke. Wer hier besteht, besteht überall.

Im bunten Startfeld sind es immer wieder Herausforderer, die vor dem Rennen niemand auf der Rechnung hat, die überraschen und den Sieg einfahren – ein Aston Martin DBR1, ein Maserati Birdcage oder ein Chaparral 2D. „Beim Alpine-Renault A442 reichte es leider nicht zum Sieg“, erinnert sich Hettler. „Aber was für ein Auto.“

Immer wieder schraubt die FIA am Reglement. Einerseits will sie Starterfelder und Zuschauerränge füllen, andererseits muss sie auf die rasante Entwicklung der Technik reagieren. Nicht immer hat der Verband ein sicheres Händchen. Die Popularität des Rennens nimmt ab, in den 70er-Jahren pendelt sich die Zuschauerzahl allmählich zwischen 60.000 und 70.000 ein – auch eine Folge der Ölkrise.

Die letzte Flagge fällt im Nieselregen

Ein wenig steht sich die alte Nordschleife auch selbst im Weg. Die „Grüne Hölle“ gilt als schwierigste Strecke der Welt. 1971 werden Fangzäune installiert und Streckenabschnitte entschärft oder verbreitert. Mittlerweile ist die Technik auf Formel-1-Niveau angekommen und ebenso teuer. „Selbst Ferrari konnte es sich ab 1974 nicht mehr leisten, parallel zur Formel 1 Sportwagen einzusetzen“, erklärt Hettler.

Mit Matra siegt 1974 zum letzten Mal ein Werksteam am Nürburgring, ab dann dominieren Privatteams das Rennen, die Autos fuhren mit Serienoptik. Erst mit dem Aufkommen der Gruppe C kehrt der Rennsportwagen zurück, aber da ist die Uhr für das 1000-Kilometer-Renner bereits abgelaufen.

Nach Umbaumaßnahmen auf dem Nürburgring und mit dem Neubau des Grand-Prix-Kurses verliert die alte Strecke die Lizenz für Rennen der Klasse A, ab 1984 wird der WM-Kampf auf dem neuen Kurs ausgetragen. „Damit büßt das Rennen endgültig seinen einzigartigen Charakter ein“, resümiert Hettler. Auf der alten Nordschleife beendet die Zielflagge am 30. Mai 1982 bei leichtem Nieselregen eine Ära.

 

Lesen Sie dazu auch das Buch 24h Nürburgring – Die Geschichte der ersten 40 Rennen aus unserem Shop.

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